„Karlsruher Tageblatt“ vom 25. Oktober 1934

Über Filmmusik und Filmkomposition
Von Elemör v. Csiesäky

Tonfilmkomponist? Wenn sie das Wort hören, dann zucken sie die Achseln, die Unwissenden, und auch noch mancher „ernste“ Komponist.
Denn, nicht wahr, so einen Tonfilmkomponisten muß man nicht ernst nehmen, was versteht der schon von wirklicher Musik? — Allerdings wenn man Schlagerkomposition am laufenden Band, wie sie von einigen Musikfabrikanten „hergestellt“ wird damit meint, dann ist ein mitleidiges Achselzucken nicht ganz unberechtigt, wobei man das Mitleid allerdings auch auf die Zuhörerschaft solcher akustischen Kundenwerbung für
platte Schlager ausdehnen sollte…
Wir wollen jedoch nicht das berühmte Kind mit dem Bade ausschütten. Auch unter den Tonfilmkomponisten gibt es eine ganze Reihe von „soliden“ Musikern, die nicht nur Techniker und Handwerker, sondern auch berufene Künstler in ihrem Fache sind.

Daß zu einem Tonfilmkomponisten viel gehört, vor allem eine vielseitige Beherrschung der musikalischen Technik, bewies uns ein Besuch bei Hans Otto Borgmann, dem Komponisten des Liedes der Hitler-Jugend „Unsre Fahne
flattert uns voran!“ und der Musik vieler erfolgreicher Ufa-Filme.

„Meiner Meinung nach ist die wichtigste Voraussetzung für einen guten Tonfilmkomponisten“ — sagt Borgmann auf unsere Frage — „genau wie für jeden anderen Musiker die möglichst umfassende und gründliche musikalische Erziehung. Wer mehr leisten will als platte Durchschnittsware und Augenblicksmusik muß sich mit allen Fragen der musikalischen Technik sehr eingehend beschäftigt habe, der muß sein Handwerk vollkommen verstehen, die symphonische Form absolut beherrschen. Selbstredend bleibt das Primäre auch für den Tonfilmkomponisten der melodische Einfall!
Doch wird sich einer, der sein Handwerk wirklich versteht, auch niemals zu einem Einfall zwingen müssen? Ihm werden ein, zwei Lieder als thematisches Material ausreichen, um daraus die Komposition für einen ganzen Film zu schaffen. Bei ausgesprochenen Musikfilmen ist das natürlich anders.
Durch geschmackvolle, stets neuartige Bearbeitungen und Varianten des Themas wird er die Handlung zu unterstützen, die Musik dem Ganzen unmerklich einzuordnen und die künstlerischen Interessen seinen persönlichen überzuordnen wissen. Meine Devise ist: Fort vom platte „Schlager“! Hin zum Volkslied oder meinetwegen: Volksschlager!
Solch ein Lied muß auch einen wirklichen musikalischen Inhalt haben, es genügt nicht allein die nette, gefällige Form.
Das Lied soll einmal die Atmosphäre, aber auch den Charakter unserer Menschen widerspiegeln, und ein deutsches Lied verlangt einen ganz anderen Rhythmus und Inhalt als zum Beispiel das echt Pariser Volkslied aus „Sous les toits Paris“. Ich glaube, daß sich manche Tonfilmkomponisten und Filmhersteller viel zu wenig der auf ihnen ruhenden schweren Verantwortung bewußt sind. Ihre Komposition, die Tonfilmmusik, zumeist also der Schlager, wird von sehr vielen Menschen gehört. Bis in die kleinsten Dörfer schon kommen ihre Werke und beeinflussen das musikalische Empfinden breitester Volksschichten. Ich selbst stelle stets diese Verpflichtung bewußt über alles.“

Das ist gleichzeitig eine Erwiderung auf die in letzter Zeit geäußerten Ansichten, wonach der Schlager die lebensberechtigtste Art der Filmkunst sei, die ja oft über dem Wort und dem Bilde stehendes direktes Ausdrucksmittel des Tonfilms ist.
Lohnend und interessant ist ein kleiner Einblick in die Arbeitsweise des Tonfilmkomponisten.
Zuerst kommt da das Expose, das er nach musikalischen Möglichkeiten prüft. Im Drehbuch ist jede Stelle, an der ein Lied gesungen werden kann, angegeben. Wenn der Komponist das Thema und seine Atmosphäre genau kennt, beginnt er mit dem Komponieren, was bei Borgmann ohne Klavier geschieht, für ihn singen die Noten sozusagen schon am Papier. Ist eine Melodie gefunden, hilft eine kleine, textlich sinnlose, aber rhythmisch richtige
Versstrophe, der sogenannte „Schimmel“. Die schwierigste Arbeit ist jedoch die mit der Stoppuhr.
Bei der Vorführung des noch stummen Filmstreifens stoppt er die zu untermalenden Stellen genau nach Minuten und Sekunden. Diese Musik nach Maß ist oft ungeheuer schwer, allein schon taktmäßig einzuteilen. Und über alles Technische und Handwerkliche hinaus soll bei Musik ja im Ganzen ein wertvolles musikalisches Kunstwerk werden!

Interessant ist übrigens auch Hans Otto Borgmanns Lebenslauf. Als Sohn eines Geheimen Oberregierungsrats in Hannover geboren, kam er früh nach Düsseldorf und noch kaum sechsjährig nach Schleswig, wo seine musikalische Begabung schon vor dem eigentlichen Schulbesuch auffiel. Mit fünfeinviertel Jahren lernte er Noten lesen, noch bevor er die Bekanntschaft mit dem ABC schloß. Vornehmlich Kirchen- und Schulmusik lernend und pflegend, war Borgmann schon als Knirps Organist beim Kindergottesdienst, und mit fünfzehn Jahren hatte er es bereits bis zum staatlichen Organisten an der Garnisonkirche zu Schleswig mit 300 Mark Jahresgehalt gebracht. Zwei Jahre später dirigierte er sein erstes selbstkomponiertes größeres Werk, eine Symphonietta. Dann kam Borgmann nach Berlin, wo er an der Akademie für Kirchen- und Schulmusik studierte und nach Absolvierung der Akademie ein Schüler Richard Hagels und Hofkapellmeister Krasselts wurde.

Dem Studium folgte eine lehrreiche Zeit der Praxis als Opern- und Operettenkapellmeister an zahlreichen Provinzbühnen. In Berlin war Borgmann lange Pianist in Filmtheatern. Die Übergangszeit zum Tonfilm fand ihn schon als Kapellmeister im Ufa-Palast am Zoo. Wer anders sollte sich nun auf die Tonfilmkomposition umstellen als Borgmann, hinter dem so schwere Jahre der Arbeit und eine so langjährige Kinopraxis standen?
Zuerst begann er mit musikalischen Bearbeitungen: „ Nie wieder Liebe!“ und „F.P.1 antwortet nicht „. Selbst komponierte er bereits die Musik zu dem Film „Strich durch die Rechnung“, dem dann die Filme „Der weiße Dämon“, „Schuß im Morgengrauen“ , „Die schönen Tage von Aranjuez“, „Hitlerjunge Quex“, „Gold“, „Ein Mann will nach Deutschland“ und „Fürst Woronzeff “ folgten.
Bevor Borgmann wieder zur Stoppuhr greift und, genau auf die Minuten- und Sekundendauer des Filmablaufs bedacht, unermüdlich Noten schreibt, erzählt der von sich selbst gar nicht gern sprechende und in Gefühlsdingen sehr zurückhaltende Komponist noch zögernd von einem Erlebnis, das auf ihn großen, unvergesslichen Eindruck machte:
„In der Potsdamer Garnisonkirche wurden Fahnen der Hitler-Jugend geweiht.
Unter den Tausenden begeisterter Zuschauer, die den Aufmarsch der Fahnen und braunen Kolonnen beobachteten, befand auch ich mich, und plötzlich erklang da vom Turm der historischen Garnisonkirche das altbekannte Glockenspiel. Aber statt des jedem vertrauten „Ueb immer Treu und Redlichkeit“ ertönte an diesem Abend: „Unsre Fahne flattert uns voran“.