Das Wittener Tageblatt vom 23. September 1932 veröffentlichte diesen Artikel, der auf die „Filmwoche“ vom 7. September zurück greift. Dort unter der Überschrift: Zeitungsfahrer besuchen ihren „Kollegen Rühmann“
Zeitungsfahrer huldigen ihrem „Kollegen“ Rühmann
In den Babelsberger Ateliers ist Hochbetrieb. Tag und Nacht wird in den einzelnen Hallen fieberhaft gearbeitet.
Unter anderem dreht Alfred Zeisler seinen neuesten Großfilm „Strich durch die Rechnung“ mit Heinz Rühmann, Otto Wallburg, Hermann Speelmans und Fritz Kampers in den Hauptrollen.
Er hat gerade „Großkampftag“ dreht in der Rennfahrerkneipe, dem Stammlokal der „Ritter vom Pedal“.
Architekten W. A. Herrmann und Herbert Lippschütz haben ihm einen Bau gestellt, der nichts zu wünschen übrig läßt: die Theke mit allem Drum und Dran, an den Wänden moderne und modern gewesene Bilder, Karikaturen von Rennfahrern, im Nebenraum, der so eine Art, Vereinszimmer ist und zu dem einige Stufen führen, steht ein kleines französisches Billard; neben dem Fenster, ein Kanonenofen, und linker Hand, in einer Ecke des Zimmers, der „Stammtisch“; auf einem Paneel die Wappen und Tischbanner der einzelnen Vereine: alles in allem echtes Milieu.
Das Lokal ist „gut besucht“; unten, an der Theke, an einem Stehtisch, Willy (Rühmann), der ehemalige Zeitungsfahrer, der zufolge besonderer Glücksumstände — wie das so im Leben ist— zum Rennfahrer avanciert ist.
Es ist Sonnabend; nur eine Nacht noch trennt ihn vom Start zu seinem großen Rennen, das ihn nicht als Sieger sehen darf: und alle hoffen auf ihn, glauben an ihn.
Willy ist niedergeschlagen, stiert vor sich ins Leere. Plötzlich fliegt die Tür des Lokals weit auf. Eine Schar junger Zeitungsfahrer, Willys ehemalige Kollegen, stürmt herein, geradeswegs auf ihn, ihren Favoriten, zu.
Großes Hallo! Alle schreien durcheinander!
„Wie geht’s?“— „Halt da ran, Willy. mach uns keene Schande!“— „Der schafft’s!“— Na und ob: unser Willy macht das Rennen!“—„Na, Willy, willst de nich’ne Lage schmeißen, det wa dir hochleben lassen könn’n?“
Die Freude kennt kein Ende. Nur Willy ist noch immer niedergeschlagen: er bestellt ihnen ihre Lage und stiehlt sich heimlich weg. Und als sie alle ihr Bier haben, werden Rufe laut:„Willy soll leben!“— „Willy!“—„Wo ist denn der Willy?“
Dann entdecken sie ihn, und im Nu sind sie bei ihm, umstehen ihn im Halbkreis und lassen ihn hochleben, ihren Willy.
Wenn sie wüßten. ….
Das ist ganz kurz der Inhalt dieser Szene, die nur aus zwei Einstellungen besteht, es aber wirklich in sich hat.
Ganz abgesehen davon, daß nie „Löcher,“ tote Stellen, entstehen dürfen, kann so eine Szene unter Umständen sehr nach „Kientopp“ aussehen, wenn einzelne zuviel des Guten tun.
Umso größer war das Erstaunen, als eine Kolonne waschechter Berliner Zeitungsfahrer im Atelier eintraf.
„Was sollen denn die hier?“ fragten alle verwundert.
Regisseur Zeisler schmunzelte: „Die sollen die Szene mit dem Willy spielen; ich denke, die werden’s am besten machen können!“
Zuversicht lag nicht gerade auf den Gesichtern der Umstehenden. Man hat schließlich schon Erfahrung darin, weiß, wie sehr Menschen, die man aus dem Leben herausgriff und vor die Kamera stellte, versagten, daß sie nicht fähig waren, sich selbst zu geben, so zu sein, wie sie im Alltag bei der Ausübung ihres Berufs waren— weil sie es gut machen wollten, weil sie bewußt handelten und immer eins im Auge hatten: gut auszusehen!
Aber bald waren die bittersten Pessimisten besiegt; die Jungens waren wirklich Berliner! Helle, die Schnauze vornweg.
Mit denen konnte man alles machen— weiß Gott, oftmals stellen sich Schauspieler ungeschickter an.
Zum gut Teil lag die gute Einfühlung in dieses ihnen so fremde Milieu an der Art, wie Alfred Zeisler sie vorbereitete.
Ruhe, nur Ruhe, war hier— wie immer— sein oberstes Gesetz.
Zuerst ging er mit ihnen in die noch unbeleuchtete Dekoration, ließ sie sich im Halbkreis aufstellen, stieg auf einen Stuhl und begann zu erklären. „Hört mal, Kinder, die Sache ist so: der Willy das ist der Heinz Rühmann, ist ein Freund von euch, steht hier, an diesem Tisch; ihr kommt, wenn ich euch das Zeichen gebe, herein, stürzt freudig auf ihn zu“
Aufmerksam hören sie ihm zu; man merkt, sie sind bei der Sache.
Nachdem Zeisler ihnen die Szene erklärt hat, läßt er erst nur die Oberlichter einschalten. „Damit ihr euch nach und nach an das Licht gewöhnt—— Nun paßt mal auf, jetzt kommt der wunde Punkt! Einige müssen, wenn sie hereinkommen, dem Willy etwas zurufen“. Er verliest ihnen die einzelnen Sätze und Sätzchen, zehn an der Zahl, und fragt dann: „Na, wer sagt den ersten?“
Sie gucken sich gegenseitig an, lächeln verlegen und tuscheln; einer gibt dem andern einen Stoß: Mach du’s!
„Na los“, ermuntert Zeisler sie, „ihr seid doch sonst nicht so schüchtern— also, wer ist der erste?“
Da tritt einer, ein ganz Kleiner, vielleicht 1.65 groß, hervor, sagt mit Todesverachtung: „Ich!“
„Donnerwetter, der Kleinste, seht ihr, der hat Mut!“
„Is ja ooch vaheirat“, schreit einer dazwischen.
Und nun melden sich gleich sechs, reißen sich förmlich um die Sätze.
„Nicht so hitzig, Kinder!“ Zeisler sagt ihnen immer einen Satz vor und läßt sie nachsprechen; dem, der ihn am flüssigsten bringt, überträgt er ihn dann.
Bald hat er alle zehn Sätze besetzt.
Es folgt eine Probe: sie stürmen herein, bringen allerdings immer mit kleinen Pausen, die Sätze.
„Soweit war’s gut, aber ihr müßt die Sätze zusammenhängend bringen!“ Er spricht sie ihnen in schneller Reihenfolge vor. „So … versteht ihr!? Das muß wie in einem Atemzug kommen. Und wenn ihr beim Rühmann steht, faßt ihn ruhig mal um, klopft ihm mal auf die Schulter— er ist ja euer Freund“.
Also noch mal Probe: alles klappt ausgezeichnet, nur— Rühmann bricht unter den freudigen Umarmungen und herzhaften Schulterschlägen fast zusammen.
„Halt, halt, Kinder! Laßt mir den Rühmann am Leben… den brauche ich noch! Sonst war’s gut; wir machen’s gleich noch mal; diesmal bei vollem Licht— laßt euch nicht irritieren. sprecht so, wie euch der Schnabel gewachsen ist, ihr kriegt jetzt auch alle einen tüchtigen Schoppen!“
Die Probe und die Aufnahme sehen gut aus.
Die Jungens haben sich wacker behauptet.
Als Zeisler die zweite Einstellung machte und die drei kurzen Sätze verteilte rief er der Gruppe zu: „Dieses „Wo ist denn der Willi?“ kann der Große bringen.“
Und der Große, der sich schon so ein bißchen mit den besonderen Fachausdrücken der Tonfilmindustrie angefreundet hatte, brachte stolz seine neuerworbenen Kenntnisse an den Mann. Er hielt Zeisler beim Arm fest und erkundigte sich: „Also ganz einfach sprechen, nicht prolongiert?“
Zeisler begriff nicht sogleich, was er meinte: aber dann lachte er vielsagend: „Nein, soviel Zeit haben wir ja nicht!“
Das begriff der Große nun wieder nicht: kopfschüttelnd sah er ihm nach – sind des sonderbaren Menschen beim Film!